Ein vermummter Mann ist auf einen Kleinbus geklettert. Er breitet die pakistanische Flagge aus, die Menge um ihn herum ruft Parolen gegen Indien und für die Freiheit von Kaschmir. Heute ist der 16. August, bei brutalen Zusammenstößen zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften sind gestern in der Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir zehn Menschen getötet worden. Die Menge hinter dem Mann mit der Flagge ist eine Beerdigungsgesellschaft, vier zivile Opfer tragen sie zu Grabe.
Schon seit über einem Monat herrscht Ausnahmezustand im indischen Teil der idyllischen Bergregion Kaschmir. Geschäfte, Schulen und Universitäten bleiben geschlossen, private Mobilfunkanbieter müssen regelmäßig ihre Netze abstellen, an jeder Straßenecke stehen Soldaten mit automatischen Waffen. Der Grund: Am 8. Juli wurde der 22-jährige Burhan Wani von Sicherheitskräften der indischen Regierung erschossen. Er war Anführer der islamistischen Rebellengruppe Hizbul Mujahideen ("Partei der Heiligen Krieger"). Was folgte, sind die schwersten Unruhen in Kaschmir seit 2010: Überall im indischen Teil der Region gehen Demonstranten auf die Straße, um entweder die Unabhängigkeit Kaschmirs oder einen Anschluss der gesamten Region an Pakistan zu fordern. Die indischen Behörden reagieren hart: sie schießen mit Streumunition auf die Protestler und verhängen eine Ausgangssperre. Seitdem wurden knapp 60 Menschen getötet, mehr als 6 000 verletzt.
Kaschmir
1947 wurde "Britisch-Indien" in zwei neue, unabhängige Länder aufgeteilt: das mehrheitlich muslimische heutige Pakistan und das mehrheitlich hinduistische heutige Indien. Die meisten kleineren unabhängigen Fürstentümer der Region hatten keine realistische Alternative, als sich einem der beiden Länder anzuschließen. Kaschmir war einer der größten Fürstenstaaten, deshalb gab es hier die Hoffnung, weiterhin unabhängig zu bleiben. Aufgrund dieser Hoffnung zögerte der Maharadscha von Kaschmir die Entscheidung hinaus, ob sich sein Fürstentum Indien oder Pakistan anschließen würde.
Als bewaffnete Kämpfer aus Pakistan in Kaschmir eindrangen, wandte sich der Maharadscha hilfesuchend an Indien. Das Land sprang militärisch ein, machte aber zur Bedingung, dass Kaschmir Teil Indiens würde. Der darauffolgende erste Kaschmirkrieg zwischen Indien und Pakistan 1947-48 führte letztlich zur Teilung Kaschmirs in den heutigen indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir und die pakistanischen Nordgebiete. Ein weiterer Teil der Region wurde von China besetzt. Doch bis heute beanspruchen sowohl Indien als auch Pakistan den jeweils anderen Teil Kaschmirs. Ungelöst blieb der Konflikt auch nach dem zweiten Kaschmirkrieg (1965) und einem weiteren bewaffneten Konflikt (1999).
Bis heute trennt Indien und Pakistan in Kaschmir keine Grenze, sondern eine "Kontrolllinie", an der es immer wieder zu Scharmützeln zwischen den Soldaten kommt - oft mit Todesopfern. Heute sind im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir so viele Soldaten stationiert wie sonst wahrscheinlich nirgends auf der Welt: Laut Schätzungen könnten es mehr als eine halbe Million sein.
Für die größtenteils muslimische Bevölkerung Kaschmirs gelten Rebellen wie Burhan Wani als Freiheitskämpfer und Märtyrer, der indische Staat sieht die Aufständischen als Terroristen und geht hart gegen sie vor. So benutzen die indischen Militärpolizisten etwa "pellet guns", eine Waffe mit Streumunition, die sonst bei der Jagd auf Tiere eingesetzt wird. Die kleinen Kugeln bohren sich ins Fleisch, die Augen und die Atemwege. Einige junge Kaschmiris seien deshalb schon erblindet, sagte ein indischer Arzt Ende Juli im Gespräch mit dem Spiegel.
Die islamistische Gruppe Hizbul Mujahideen wird allerdings auch von der EU und den USA als Terrorgruppe eingestuft. Laut deutscher Presseagentur sagen viele Einwohner Kaschmirs, das "Säbelrasseln und die Extremisten, das komme alles aus der Hauptstadt oder dem Hauptquartier des Militärs".